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Visionen vom Schlaraffenland

Zwischen Träume und Wahnsinn

Doch die große Entsagung die den Menschen jahrhundertelang eingerichtet worden war ,hatte zu Mangelerscheinungen geführt, die sie auf alles andere als beschauliche Gedanken brachten. Am Ausgang des Mittelalters erreichte die Gier nach Sinneslust den Stellenwert einer Massenpsychose. Die Gebäcke waren natürlich einer ihrer vorrangigsten Gegenstände. In keinen Volksbuch fehlten die Halluzinationen vom Schlaraffenland, wo sogar die Fensterläden aus Lebkuchen bestehen. Die große Kuchengier war ausgebrochen und hielt sich über Jahrhunderte hinweg als Hoffnungsschimmer am Horizont der Überforderten , Unterdrückten, Bekümmerten und Gestressten. Auf den bäuerlichen Festen, an denen ich als Kind teilnahm , waren pro Teilnehmer zwei wagenradgroße Kuchen veranschlagt und ein halbes Dutzend rotbackiger und kugelrunder Tanten war eine Woche lang mit der Herstellung dieser betraut.

Die große Kuchenschlacht. sich einmal richtig sattessen an nichts als Kuchen, den luxuriösesten der Lebensmittel; so viel davon essen, bis man nicht mehr kann.

Dieser Menschheitstraum von Grenzenlosigkeit und Unbeschänktheit ist nicht nur das Erfolgsprinzip des Kindergeburtstages. Er ist auch ein Standartopos der abendländischen Literatur geblieben, seit er erstmals in den Visionen vom Schlaraffenland geträumt wurde.

Nicht nur Garagantua und Pantagruel haben an ihm weitergeträumt haben, nicht nur Hans Sachs und Abraham a Santa Clara, bis hin zur zeitgenössischen Krimiproduktion reicht der Reigen grotesker >> Kuchenschlachten<<. Italo Calvano schildert eine Konditorei der kläglich scheiterert, als ein Gangster an einer ausgestellten Torte zu naschen anfängt. Das Ganze endet mit einem gemeinsamen Kuchen- Mahl der Einbrecher mit dem Polizisten, deren Eintreffen im Torten- Rausch untergeht und die bald auch selbst mit vollen Backen kauen. 

...in aller Absicht zu den Künsten<<: Von Zucker und Zuckerbäckern

Im Jahr 1774 konstatierte ein Altvater der Gilde mit Namen  Stengel: >> Der Conditeur gehört in aller Absichts zu den Künsten.<<

Der Hang zu Höheren durchwirkt die ganze Geschichte dieses Handwekrs - pardon: dieser K u n s t. >> Die Konditorei ist ihrem ganzen Grundwesen nach ein Zweig der großen Familie, die die Ästhetik im Wappen trägt<< verkündet ja der Autoreines standeartwerks. >> Denn in der Tat : das ganze Gewebe der Konditorei setzt unbedingt einen ausreichenden Fond von künstlerischen Sehen, Fantasie und Formensinn voraus, anders kann man den großen, geradezu endlosen Komplex von bedeutungsvollen Erfolgen nicht umfassen.<< Den Verfasser dieser Sprache gewordenen Buttercremetorte überkommt indes gerechter Zorn, wenn er gegen >> Schmutzkonkurrenz<< eifert und zum >> Kampf gegen gemeinsame Gegner << ruft. Hiermit können nur die ungeliebten Bäcker gemeint sein, mit denen die Künstler der Backstuben seit jeher im Hader lagen. Denn nichts verdrießt diese >>große Familie << mehr, als das scheinbar unausrottbare Schicksal, ständig mit den Bäckern  verwechselt zu werden: >>Man braucht auf das Verfehlte der Anschauungen gar nicht hinzuweisen, daß es sich bei der Konditorei um eine Art des Bäckerhandwerks handele <<, beschwichtigt ein Vorwortschreiber sich und seine aufgebrachten Kollegen. Sie verschmähten es schon im Mittelalter, einer Zunft anzugehören, denn dies hätte bedeutet, unbilligerweise den ungeliebten  Bäckern zugeschlagen zu werden. Niemals , so fanden sie , soll >> unsere Kunst, unsere zu allen Zeiten freie Kunst, zu einem Handwerk gestempelt << sein. Mit den Lebküchlern zankten sie sich ob solcher Grenzkonflikte schon vor dreieinhalb Jahrhunderten derart , daß ein Gerichtsbescheid für alle Zeiten Klarheit schaffen sollte: fortan durften jene nur dunkles , die >> Zuckerbäcker << indes nur helles Mehl verwenden.

Das wahre Unterscheidungsmerkmal indes hat mit Mehl so wenig zu tun, wie der Name >> Zuckerbäcker<< mit Backen. Als mit entstehendem Welthandel zuerst in italienischen und später auch in anderen europäischen Städten Zuckerraffinerien entstanden,

in denen der von weither angelieferten Rohzucker  >> clarifiziert << wurde, preßte man das Erzeugnis in die bekannte Zuckerhut-Form ,die, verpackte in blaues Papier, als Ausgangsmaterial der Kondioren diente. Diese Formung zum Zuckerhut war es die man >> Zuckerbacken<< nannte und ebendaher bekam der so enstandene Beruf den Namen  >> Zuckerbäcker <<. 

Damit ist angedeutet, worin das Neue dieses Standes lag: der Zucker und nicht das Mehl war das bevorzugte Material. Das war eine sensationelle Neuheit. Erst amende des Mittelalters gelangte der Rohstoff ZUcker in weiteren Ausmaß nach Europa; war vorhersüß war, was es durch alles Mögliche, durch Honig, Früchte, Rosinen, , nicht aber durch das, was sein uns heute mit dem Begriff >> süß<< nahezu verschwistert zu sein scheint: mit Zucker.

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